Lebensform: Das Ganze ist dem Teil übergeordnet wie das Vollkommene dem Unvollkommenen

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Die Lebensform ist menschliches Gesetz, in die zwei untrennbare Elemente zusammenfließen; einerseits ist sie einem Zweck zugeordnet, andererseits ist sie eben eine Regel, eine von oben festgelegte Maßnahme, die selber wieder doppelter Natur ist: sie ist göttliches Gesetz und Naturgesetz. Das Ziel des menschlichen Gesetzes ist das Wohl der Menschen und zwar in dreifacher Hinsicht: Es soll mit der Religion im Einklang stehen, da es sich nach dem göttlichen Gesetz richten muss; es soll der Ordnung dienen, da es aus Prinzip mit dem Naturgesetz übereinstimmen soll; es soll die Allgemeinheit fördern, da es auf das Wohl des Menschen ausgerichtet sein muss. (P. Erasmo Norberto Bautista Lucas, mccj)

DAS GANZE IST DEM TEIL ÜBERGEORDNET
WIE DAS VOLLKOMMENE DEM UNVOLLKOMMENEN

Überlegungen zur Lebensform

Einleitung

Die Lebensform ist menschliches Gesetz, in die zwei untrennbare Elemente zusammenfließen; einerseits ist sie einem Zweck zugeordnet, andererseits ist sie eben eine Regel, eine von oben festgelegte Maßnahme, die selber wieder doppelter Natur ist: sie ist göttliches Gesetz und Naturgesetz. Das Ziel des menschlichen Gesetzes ist das Wohl der Menschen und zwar in dreifacher Hinsicht: Es soll mit der Religion im Einklang stehen, da es sich nach dem göttlichen Gesetz richten muss; es soll der Ordnung dienen, da es aus Prinzip mit dem Naturgesetz übereinstimmen soll; es soll die Allgemeinheit fördern, da es auf das Wohl des Menschen ausgerichtet sein muss. Aus der Harmonie des Gesetzes mit der Religion folgt dessen Ehrlichkeit; das Gesetz muss ehrlich sein. Aus dessen Beziehung mit der Disziplin ergibt sich seine Möglichkeit; das Gesetz muss der Natur und den Gewohnheiten des Landes Rechnung tragen und Orten und Zeiten angemessen sein; es muss also der Disziplin nützen; das heißt, es muss den Umständen angepasst sein.

Da das menschliche Gesetz ein Gebot der praktischen Vernunft ist, nach dem sich die menschlichen Handlungen richten, können zwei Motive eintreten, um es zu ändern: das Motiv der Vernunft und das Motiv des Menschen, deren Handlungen das Gesetz regelt. In unserem Fall leitet die Lebensform unsere Missionsarbeit, bestimmt unsere Vorgehensweisen und regelt unsere Organisation.

Von der Vernunft her kann die Lebensform abgeändert werden, da es der menschlichen Vernunft zusteht, allmählich vom Unvollkommenen zum Vollkommenen zu schreiten. Deswegen stellen wir beim Fortschritt des menschlichen Wissens fest, dass die ersten Forscher nur unvollkommene Entdeckungen machten, die dann später von ihren Nachfolgern verbessert wurden. Das Gleiche geschieht auch im praktischen Leben, das heißt, im Bereich des Handelns. In der Tat, die ersten, die etwas Nützliches für den Aufbau der menschlichen Gesellschaft zu entdecken suchten, allein aber nicht allem Rechnung tragen konnten, stellten unvollkommene, lückenhafte und für den Dienst am Allgemeinwohl mangelhafte Normen auf, die später abgeändert und durch andere ersetzt wurden. Wir können heute die Lebensform wegen der sich ändernden menschlichen Bedingungen abändern, die in ihrer Unterschiedlichkeit differenzierte Behandlung erfordern, da sich der Teil nach dem Ganzen ausrichtet, wie das Unvollkommene nach dem Vollkommenen, und der einzelne Mensch Teil der Gemeinschaft ist…

Auf dem Hintergrund dieser Orientierungen lege ich euch die nun folgenden Erwägungen vor.

0. Unsere Organisation

Der vierte Teil der Lebensform trägt den allgemeinen Titel: Der Dienst der Autorität in der Kongregation. Er besteht aus sechs Abschnitten; der erste bezieht sich auf Leitung und Autorität; der zweite auf die Hausgemeinschaft; der dritte auf die Provinzen; der vierte spricht von der Generalleitung; der fünfte behandelt das Generalkapitel; der sechste legt die Normen für Abwesenheit und Trennung von der Kongregation fest.

Der Inhalt ist auf 59 Artikel verteilt, auf die Nummern 102 bis 161. Dieser Teil kann also als kollektive Abhandlung über das Unterwegssein und das Gemeinschaftsleben als Merkmal der Mitglieder verstanden werden, die, wenn auch immer verbesserungsfähig, aber noch heute überzeugend, innovativ und anpassungsfähig ist. Aus dem obigen Hinweis folgt also, dass unsere Organisation zur Erfüllung unserer Mission herzlich ist, aber kompliziert wegen unserer Standorte, Werke und Dienste. Die Standorte sind die Hausgemeinschaften, die in Delegationen oder Provinzen zusammengefasst sind. Die Werke sind Schulen, Gesundheitseinrichtungen, Pfarreien, soziale Werke usw., die von Gemeinschaften oder Delegationen oder Provinzen geleitet werden. Die Dienste sind Aufgaben, die uns oder anderen gehören, und von Mitgliedern des Instituts erfüllt werden.

0.1 Aus Prinzip durch Christus brüderlich verbunden, um dessen Mission auf den Spuren von Daniel Comboni fortzusetzen

Der vierte Teil ist auf dieser Grundlage aufgebaut: Wir Comboni Missionare vom Herzen Jesu sind normale und einfache Menschen, die durch die ursprüngliche Inspiration des heiligen Daniel Comboni in Christus brüderlich verbunden sind, um dessen Mission fortzusetzen; mit Hilfe unserer Organisation bemühen wir uns, die Bande der Einheit, Brüderlichkeit und Freundschaft durch das gemeinsame Handeln zu stärken.

Einheit und Gemeinschaft sind uns lebenswichtig, da wir ein in Gemeinschaften organisierter Körper sind, der das Evangelium leben und die Sendung erfüllen will. Und nichts hilft unserer Einheit mehr als der Gehorsam gegenüber dem Generaloberen und den Hausoberen, die ihn unterstützen. Das sollen wir im Licht des Lebens Jesu sehen, der seinem Vater bis zum Tod am Kreuz gehorsam war. Dann hilft der Dienst der Autorität, die Einheit zu leben nicht als ein Prinzip von Regeln, sondern als ein ethischer und gemeinsam verwirklichter Lebensstil. Das erfordert Leiter, die mit Geduld, Herzlichkeit und Hoffnung daran erinnern, dass die evangelische Dringlichkeit des Mitfühlens, Aufrüttelns und Wachrufens des Reiches in allen Gesellschaftsbereichen das Wichtige ist, sowie dem Reich Gottes auch in Milieus Eingang zu verschaffen, die selbstzufrieden, desorientiert und ohne Verbindung mit Gott zu leben scheinen. Es braucht Menschen mit evangelischer Autorität, die überzeugen, motivieren und das Institut zu seiner Identität zurückführen. Das setzt Menschlichkeit, Herzlichkeit und Unentgeltlichkeit voraus. Diese Werte erfordern eine anthropologische Bereitschaft, die aus der Tugend und besonders aus der Wärme des Glaubens durch die übernatürliche Gnade hervorgeht, um dem Guten, der Wahrheit, der Gerechtigkeit Wege zu öffnen, und alle Leidgeprüften mit Jesu Liebe zu umarmen.

0.2 Wege der Annäherung

Ein Baum erhält die Lebenskraft aus seinen Wurzeln in der feuchten Erde, empfängt Licht durch seine Blätter und durch den Austausch mit der Umgebung. Von der Baumkrone aus erblickt man den weiten Horizont. Seine tiefen Wurzeln sichern ihm sein Leben. Atmung und Verwurzelung, Höhe und Tiefe sind die beiden Merkmale des oftmaligen Lesens eines Textes, in diesem Fall der Lebensform. Von diesem doppelten Blickwinkel aus soll der Leser zwei Übertreibungen vermeiden: erstens, eine Lektüre, die fromm und andächtig zu sein scheint, aber in einer individualistischen, sentimentalen und oberflächlichen Weise geschieht; zweitens, eine Lektüre mit viel Studium, die angeblich sehr objektiv ist, der aber die spirituelle, menschliche und missionarische Ausrichtung fehlt.

Es sind zwei recht einseitige Leseweisen. Um beide Extreme zu vermeiden, muss sich der Leser um eine getreue und kreative, offene und tiefe Lektüre bemühen.

Zu diesen beiden grundlegenden Orientierungen, die den Autor und den Leser betreffen, muss man zwei weitere hinzufügen, nämlich den Blickwinkel des Textes in seiner Gesamtheit und Tiefe. Diese vier Grundausrichtungen werden durch diese vier Schlüsselwörter angezeigt: vor dem Text, das heißt, das aktuelle Lesen; hinter dem Text, das heißt, der Autor oder die Autoren; im Text und im Text als Ganzes, nämlich das was der Text selbst sagt; unter dem Text, mit anderen Worten, die Tiefe dieser Botschaft für die Gemeinschaft der Mitbrüder, die zusammenkommen, um den Text immer wieder zu lesen, und ihn als ein wertvolles Familienalbum weiterzugeben, was während des Postulats, Noviziats, Scholastikats und auch später noch geschieht.

 0.3 Das zeitlos gültige geistliche Erbe der Menschheit

Man bedenke, dass ein Volk vor allem aus einer Sammlung von Geheimnissen besteht, die man nicht ohne weiteres erraten und verstehen kann, sagte Ortega am Beginn des 20. Jahrhunderts in seinem Werk Die Rebellion der Massen. Die Mitglieder des Instituts kommen heute aus verschiedenen Ländern. Deswegen gibt es im Institut verschiedene Sammlungen von Geheimnissen, die bei der Lektüre, dem Verständnis, der Auslegung und der Einfügung des Gesetzes in einen Verfassungstext durch eine nationale Gruppe, in einer bestimmten Epoche, gemäß einer Überlieferung, in unserem Fall der vorherrschenden westlichen Überlieferung, mitspielen. Die Überarbeitung und Rückbesinnung auf die Lebensform erfordern die harmonische Kombination der Sammlungen der Geheimnisse von den verschiedenen Völkern, die aber von allgemeinen und unbeweisbaren Prinzipien getragen werden, von sich aus für jeden einleuchtend und offensichtlich sind, und das geistliche Erbe der Menschheit ausmachen: Trotz des Wandels der Zeiten und der Fortschritte des Wissens einen Kern philosophischer Erkenntnisse erkennen, die in der Geschichte des Denkens ständig präsent sind. Man denke, um nur ein Beispiel zu nennen, an die Prinzipien der „no contradicción“, der Finalität, der Kausalität wie auch an den Begriff von Person als freiem und intelligentem Subjekt und an deren Fähigkeit, Gott, die Wahrheit und das Gute zu erkennen; man denke ferner an einige moralische Grundsätze, die allgemein angenommen werden. Diese und andere Themen weisen darauf hin, dass es, abgesehen von den einzelnen Denkrichtungen, eine Gesamtheit von Erkenntnissen gibt, in denen man so etwas wie ein geistiges Erbe der Menschheit erkennen kann. Es handelt sich nach Benedikt XVI. um eine Art natürlicher Grammatik, auf der die detailliertesten Bestimmungen ruhen, die den Menschen im Einklang mit deren Bedingungen auferlegt werden müssen. Aus diesem Grund können die Menschen das Gesetz, deren Handlungen es regelt, rechtmäßig abändern, da sich die menschlichen Bedingungen ändern, deren Verschiedenheiten entsprechende Behandlung verlangen. Es ist also legitim, ein Gesetz zu ändern, da man dadurch zum Gemeinwohl beiträgt.

1. Die Brüderlichkeit wiedergewinnen

Heutzutage interessiert sich das Recht besonders für die Definition von Grenzen und Bedingungen der Ausübung der Autorität, aber weniger für die Reflexion über deren Sinn und Grundlagen. Eine solche Reflexion ist jedoch notwendig, da die Autorität eine Krise durchmacht, sowohl in der Familie als auch in der Schule, und infolgedessen in so manch anderen Institutionen. Diese Krise zeigt sich auf verschiedene Weise: einerseits beobachtet man den Übergang von einer Art Autorität, die an das Heilige, das heißt, an das Unantastbare, gebunden ist, zu einer Autorität, die sich im Bereich der Verhandlung bewegt. Andererseits ist auch diese Idee umgeformt worden durch die Bejahung der Gleichheit aller Menschen, unabhängig von deren Lebensbedingung, Geschlecht und Alter, und durch die Bejahung der Spontaneität der Personen, die selbständig denken sollen. Man hat mit Recht das autoritäre Verhalten angeprangert, das mit einer Art Manipulation und Ausübung von realer Gewalttätigkeit einhergegangen ist. Jedoch so öffnet man der Gefahr und dem Risiko Tür und Tor, einer anderen Übertreibung anheimzufallen, nämlich der Laxheit oder dem Freiheitsmissbrauch. 

    1. Beziehung und Dialog in der Ausübung von Autorität

Im Dokument der Kongregation für die Institute geweihten Lebens und Gesellschaften apostolischen Lebens - CIVCSVA - „Für neuen Wein, neue Schläuche“ finden wir diesen radikalen aber zugleich einfachen Vorschlag: Wir werden die Brüderlichkeit wiedergewinnen. In der weitesten Vision über das geweihte Leben seit dem Konzil sind wir von der zentralen Rolle der Autorität zur Zentralität der Dynamik der Brüderlichkeit übergegangen. Daher kann die Autorität nur im Dienst der Gemeinschaft stehen: ein wahrer Dienst an den Mitbrüdern, [...] um sie auf dem Weg zu einer bewussten und verantwortlichen Treue zu begleiten. Daraus folgt also, dass das Gespräch unter Mitbrüdern [...] und das Hinhören auf die Person zur unerlässlichen Haltung im Dienst der Autorität nach dem Geist des Evangeliums wird. Allerdings hat im Ordensleben zu lange ein vertikales Verständnis von Autorität gegolten, das sich so ausgedrückt hat: Die Zuflucht zu Verwaltungstechniken oder zur spiritualistischen und paternalistischen Anwendung von Arten und Formen, die als „Gottes Wille“ hingestellt wurden, mindert einen Dienst, dessen Aufgabe es ist, sich mit den Erwartungen anderer, mit der täglichen Wirklichkeit und mit den gelebten Werten auseinanderzusetzen und in der Gemeinschaft auszutauschen. Es bereitet wirklich Sorgen, hebt das Dokument hervor, dass Weisen und Praxis von Leitung weiterbestehen, die sich vom Geist des Dienstes entfernen oder ihm widersprechen, und in autoritäre Formen abgleiten können. Die Aufforderungen des Dokuments entfernen sich von diesem oben erwähnten besorgniserregenden Verständnis von Autorität und unterstützen den Wunsch nach größerer Ausgewogenheit. Sie ermutigen uns, die Mission unseres Instituts als ein gemeinsames Projekt zu sehen, das Zusammenarbeit erfordert: Wir müssen einen Dienst der Autorität vorantreiben, der eine Zusammenarbeit und eine gemeinsame Vision im Stil der Brüderlichkeit anregt; wir müssen uns überzeugen, dass Autorität an sich ein Dienst und kein Mittel zur Selbstbestätigung ist; uns dem Einsatz autoritärer Lösungen in der Leitung widersetzen; mehr von der Rotation der Ämter Gebrauch machen; die Beziehungen zwischen den Altersgruppen innerhalb des Instituts fördern. Anhand dieser Richtlinien lege ich euch jetzt einige Überlegungen vor, die ich aus meiner Erfahrung im geweihten Leben und in anderen Bereichen kollegialer Verantwortung gewonnen habe, und präsentiere sie im Geist der „Brüderlichkeit“, für die das erwähnte Dokument plädiert.

1.2 Der Zeitgeist

Die hier vorgeschlagenen Erwägungen setzen voraus, dass die aktuellen Interpretationen der Organisationsstrukturen, hinter denen das geweihte Leben steht, dem Zeitgeist und den Zweifeln unserer Zeit ausgesetzt sind. Eine starke Relativierung der Autorität koexistiert paradoxerweise mit dem Anspruch, sie ohne Zögern auszuüben. Wer leitet, hat es einerseits nach der Periode der paternalistischen Autorität mit der spürbaren Sehnsucht zu tun, sich wiederum um die individuellen Bedürfnisse zu kümmern, und auf diese Weise der Anonymität entgegenwirken, in der die vom Institut unternommenen Umstrukturierungen versinken. Andererseits muss sie auf die andauernden Forderungen eingehen, die Mitbestimmung in der Leitungsstruktur zu stärken.

Zwischen einem autoritären System und Laxheit muss man zweifelsohne die goldene Mitte suchen, genauer gesagt, den Sinn, die Legitimität und das Fundament der Autorität klar definieren, das Teil der Aus- und Weiterbildung sein muss. Nach dem Lesen, dem Verständnis und der Aktualisierung des Inhalts des vierten Teils der Lebensform über die Autorität und deren Ausübung, ist heute eine Neubesinnung auf der Höhe der Zeit notwendig, aber besonders im Licht der zunehmenden kulturellen Vielfalt des Instituts, denn ein Volk besteht vor allem aus einer Sammlung von Geheimnissen, die nur mit etwas Anstrengung  erraten und verstanden werden können.

Da die Strukturen der Gemeinschaft - der Dienst der Autorität des Instituts - von der kanonischen und theologisch-spirituellen Perspektive aus betrachtet werden können, zwei mögliche und wichtige Perspektiven, ist es unumgänglich, sie in ausgewogener Weise bei der Rückbesinnung und Überarbeitung der Lebensform zu berücksichtigen, wenn auch die kanonische Perspektive die schwierigere ist, weil sie viel Mühe, Geduld und Dialog erfordert, um die Neuerungen in die kanonische Tradition einzubringen, die der Heilige Geist im Institut hervorruft und die Leitungsstrukturen innerhalb der Gemeinschaft oder der theologisch-geistigen Vision ausmachen. Beide Perspektiven bilden den roten Faden im Gewebe unserer aktuellen Konstitutionen. In dieser Hinsicht sind diese Überlegungen sehr aufschlussreich: Wir müssen zu einer Spiritualität des Leitungsdienstes zurückfinden, die sich mit dem erlittenen Prestigeverlust auseinandersetzt, mit der Kritik, der er unterliegt, mit den übertriebenen Erwartungen an Fähigkeiten, die man von ihm erwartet, mit der Duldung des Individualismus, der das Bewusstsein des Gemeinwohls untergräbt, und mit der Naivität, die übermäßig horizontal ausgerichtete Autoritätsmodelle zeigen. Diese Spiritualität würde helfen, den Wert der Mission zu erkennen, der dem Dienst der Autorität innewohnt, und das Lebenspotential, das diese Mission für andere mit sich bringt.

1.3 Leitung und Autorität

Der Inhalt des vierten Teils der Lebensform fußt auf dieser Grundüberzeugung, dass die missionarische Aktion des Instituts niemals im Alleingang möglich ist. Isoliert sein bedeutet fehlende Handlungsfähigkeit. Aktion und Dialog brauchen die Präsenz anderer. Um dies zu illustrieren, ist es gut, daran zu erinnern, dass das Griechische und das Lateinische, im Gegensatz zu modernen Sprachen, zwei verschiedene aber doch unter sich in Beziehung stehende Wörter haben, um das Verb "actuar" (handeln) zu bezeichnen. Den griechischen Verben archein ("beginnen", "leiten" und schließlich "regieren") und prattein ( "durchqueren", "verwirklichen", "beenden") entsprechen die lateinischen Verben agere ( "in Bewegung setzen", "leiten") und gerere (dessen ursprüngliche Bedeutung „tragen“ ist).

Es scheint, als ob jede Handlung zwei Teile hätte: den Anfang, der von einer einzigen Person ausgeführt wird, und das Ende, in dem sich viele zusammentun, um das Unternehmen „zu tragen" und "zu beenden", indem sie Hilfe leisten. Nicht nur die Wörter sind in ähnlicher Weise miteinander verbunden, auch die Geschichte ihrer Verwendung ist sehr ähnlich. In beiden Fällen wurde das Wort, das ursprünglich nur den zweiten Teil der Aktion, den Schluss - prattein und gerere - bezeichnete, zum allgemein angenommenen Wort für die Aktion, während diejenigen, die den Beginn der Aktion bezeichneten, sich in der Bedeutung spezialisierten, zumindest im politischen Sprachgebrauch. Archein bedeutet weiterhin hauptsächlich regieren und führen, wenn es in einer bestimmten Weise benutzt wird, und agere bedeutet "führen" statt "sich in Bewegung setzen". So wurde die Rolle des Anfängers und des Führers, der primus inter pares war, zum Regenten.

Autorität kommt in verschiedenen Formen vor. Erstens als Charisma oder als natürliche Abstammung, die von Natur aus zu leiten versteht.

Zweitens, als eine Kompetenz, zum Beispiel die des Fachmanns, des Spezialisten, des Weisen, oder so wie die platonischen Bilder sich die politische Autorität vorstellen.

Drittens, als Direktion oder Leadership, die an ein Statut gebunden ist. In allen drei Fällen bedeutet Autorität eine vertikale Beziehung oder zumindest eine bestimmte Hierarchie.

Die erste Form von Autorität, das Charisma, kann insofern zweideutig erscheinen, als es sowohl in der Erziehung, in der Ausbildung als auch in der Politik ausgeübt werden kann, zum Guten oder zum Schlechten. Die zweite, die Kompetenz, wäre leicht zu rechtfertigen, insofern sie das Objekt beherrscht und die anderen das zulassen. Die dritte, das Statut, wird oft als willkürlich und künstlich kritisiert, insofern es sich nicht durch wirkliche Kompetenz im Dienst der anderen rechtfertigt. Aber gerade im Bereich der Kompetenz beobachtet man, dass der Autoritätsbegriff unter Jugendlichen und Erwachsenen auf die schiefe Bahn gerät.

Gerade in diesem Umfeld ist nach unserer Meinung Leadership unumgänglich, die im Hinhören auf den Heiligen Geist in der Gemeinschaft entsteht und, vom eigenen Leben ausgehend, einen möglichen und realen Weg aufzeigt, ohne die Abhängigkeit-Transzendenz zu verlieren, die auf unverwechselbare Weise den Glanz der Nähe Gottes aufzeigt. Es geht um eine Leitung, die weiß, wohin sie gehen will. Sie braucht einen Reiseplan, den aufzuzeigen und mitzuteilen sie imstande sein muss, und für den sie begeistern kann. Deswegen muss sie von den realen Möglichkeiten des Instituts, dem sie dient, überzeugt sein. Sie muss vereinfachen und Änderungen veranlassen können, um die Gemeinschaft zu neuem Leben zu erwecken; sie muss Veränderungen fördern, unterstützen und darauf achten, dass sie nicht vom Weg abkommen noch sich von der Kraft des Charismas abbringen lassen; sie muss wirklich Leadership nach dem Evangelium sein, denn es macht keinen Sinn, es mit Gewalt zu sein oder weil nichts anderes übrig bleibt oder sie die einzige ist; sie muss geeignet sein, eine vielfältige Gemeinschaft, die Kongregation, aufzubauen, in der dank der Vermittlung durch eine vielstimmige und prophetische Leadership die Initiativen und Möglichkeiten, die Komplementarität und die Neuheit zusammenleben können. Da die Mission die Seele der Gemeinschaft ist, muss die Autorität von Menschen ausgeübt werden, die die Schönheit entdecken, ein Volk zu führen, das mit Selbsttäuschungen und Versprechen, mit Klagen und Erinnerungen, mit Tendenzen zu Effizienz und Überheblichkeit, mit dem Tod vor Augen durch die Wüste wandert. Die Fragen zu Regierung und Autorität berühren voll und ganz den Regierungsstil vom Gesichtspunkt der Übernahme und Ausübung aus: die Autorität setzt viel aufs Spiel durch die Art mit der sie übernommen und ausgeübt wird. Heute genügt nicht mehr irgendein Stil.

Wenn es darum geht, die Ausübung des Leitungsdienstes zu behandeln, muss man über die Verantwortung Dritten gegenüber nachdenken, wenn auch nur in symbolischer Weise oder zwecks einer Regulierung.

Die Dritten können die Mitbrüder sein. Drei wesentliche Elemente fließen hier zusammen, nämlich: regieren und regiert werden, Regulierung und Macht und die regulierte Ordnung, die sie begleitet. Hier haben Personifizierung und Urteilsfindung ihren Platz: Für das Evangelium sind Menschen unentbehrlich. Es gibt keine abstrakten Gebote, die in sich gültig sind, ohne Bezug zu dem, der sie vorschlägt, und zu dem, dem sie mitgeteilt werden. Das Evangelium arbeitet mit Aufrufen, mit Appellen an Menschen, damit sie Initiativen zum Wohl der anderen in die Wege leiten. Denn in den Menschen findet die Mission erstaunliche Quellen der Unentgeltlichkeit, des Heroismus in der Selbst-hingabe, der Schaffung brüderlicher Beziehungen, der Bereitschaft zu Solidarität, der Anpassungsfähigkeit im Dienste über die Traditionen hinaus. [...] Die Führung [...] muss von der Priorität der cura personalis überzeugt sein. Und das erfordert dann weiter zu gehen, an die Wurzel, auf der Suche nach einer Instanz, vor der Rechenschaft über die Ausübung von Autorität abgelegt werden kann, weil es gilt, an das Einzige zu denken, das, in seiner Radikalität, den Sinn des menschlichen und persönlichen Lebens begründen kann; das heißt, gleichzeitig von der Einzigartigkeit und den bedingungslosen Werten gekennzeichnet sein. Auf jeden Fall muss jener, der leitet und Autorität ausübt, reich an Menschlichkeit und respektvoller Sensibilität in zwischenmenschlichen Beziehungen sein, weil sich einerseits der Wille und die Vernunft des Menschen in Worten ausdrücken und andererseits auch in Handlungen, da jeder zu verstehen gibt, dass er das, was er tut, vorzieht. In dieser Hinsicht sind die Worte einer Person, die in sehr schwierigen Zeiten gelebt hat, und diesen äußerst lehrreichen Ratschlag gibt, sehr interessant: die guten Bauern [...] züchten nicht nur gerade und hohe Bäume, sondern benützen Stützen, die auch jene aufrichten, die aus irgendeinem Grund krumm geworden sind; andere beschneiden sie, damit die Zweige nicht ihr Wachstum behindern; die kranken behandeln sie mit Dünger; jenen, die unter fremdem Schatten zu ersticken drohen, öffnen sie den Himmel.

Unser Institut braucht heute gute Bauern, also Leute, die sich um die geraden und schönen Bäume kümmern; die die krummen begradigen, die dichtbelaubten beschneiden, den Boden der kranken düngen, und jenen den Himmel öffnen, die durch fremden Schatten in ihrem Wachstum behindert werden und denen dadurch das Licht entzogen wird.

Schluss

Von dem, der den Dienst der Autorität ausübt, wird vor allem menschliche Reife erwartet, geistliche Gesundheit und unternehmerische Fähigkeit, so dass das Institut ein Haus der Barmherzigkeit und weniger vertikal und mehr synodal wird; von ihm wird Treue und Klugheit erwartet, denn Zorn ist der Anfang des Ruins einer guter Leitung. Die Organisation, mit deren Hilfe wir unsere Mission erfüllen, und im vierten Teil der Lebensform dargelegt wird, ist herzlich und vom Glauben durchdrungen, aber kompliziert. Aus dieser Perspektive heraus kann der Inhalt des vierten Teils der Lebensform als Ausdruck eines sich immer im Aufbau befindlichen Instituts betrachtet werden, das sich vom Heiligen Geist und von Brüderlichkeit begleitet fühlt.

Wer den Dienst der Autorität ausübt, bitte den Herrn um prophetischen Wagemut, Zeugniskraft, den Scharfblick eines Meisters, Führungsqualitäten, väterliche Sanftmut und brüderliche Nähe, um jenen, die seiner Sorge anvertraut sind, den Wunsch zu erfüllen, am Erlöserwerk Christi teilzunehmen.

Leiten ist im Prinzip und letzten Endes ein Akt der Liebe, ist Leben erwecken. Und die Liebe ist anspruchsvoll und verlangt nach den besten Ressourcen, erweckt Leidenschaft und begleitet mit Geduld die Mitbrüder auf ihrem Lebensweg.

Wer im Institut den Dienst der Leitung ausübt, muss selbstverständlich kompetent und qualifiziert, aber, vor allem und in erster Linie, menschlich reif sein, stets Unhöflichkeiten in Wort und Tat vermeiden, die Einheit in der Verschiedenheit und die Identität im Unterschied pflegen, in allem die Nächstenliebe wahren, eins in der Sendung sein, den „Duft des Evangeliums“ (EG) verbreiten, mit Freude und Kreativität das Erbe des heiligen Daniel Comboni bewahren.
P. Erasmo Norberto Bautista Lucas, mccj - Mexiko-City, am 28. August 2018 – Fest des Heiligen Augustinus.

Übersetzung: P. Alois Eder