Sonntag 17. Februar 2019
Während ich diese Zeilen schreibe ist es 30 Grad. Das ist angenehm kühl. Wir haben in dieser Woche 42 Frauen zu unserem jährlichen Dezember-Treffen zu Besuch in Old Fangak, jeweils zwei aus jedem der 21 Zentren der Pfarrei. Das Treffen dient dazu, den Glauben zu vertiefen und die Gemeinschaft zwischen den Zentren, die mehrere Stunden voneinander entfernt liegen, zu stärken. Weil kaum eine der Frauen lesen kann, habe ich ein Quiz zur Dreifaltigkeit und eins zu den Sakramenten vorbereitet. Das prägt sich auch dann ein, wenn nur gesprochen wird.

Pater Gregor Schmidt.

In anderen Teilen der Welt wären unsere Zentren eigenständige Pfarreien, und die Pfarrei wäre eine Diözese. Groß genug ist das Gebiet und genug Katholiken gibt es auch. Es gibt aber keine Priester – leibliche Nachkommen sind hier eine Verpflichtung – und mit Bischofsernennungen tut sich die Kirche auch schwer. Mittlerweile warten sechs der sieben Diözesen im Südsudan auf einen neuen Bischof. Unsere Diözese Malakal ist schon seit über neun Jahren verwaist. Sie hat eine Größe von zwei Drittel der Fläche Deutschlands.

Die Situation entmutigt uns aber nicht, sondern spornt uns an, eigenständig und im Vertrauen auf den Herrn das kirchliche Leben in Fangak zu gestalten. Leider ist unser polnischer Pater Christopher dieses Jahr auf seinen Wanderungen zu den Kapellen zwei Mal an Hepatitis E erkrankt, so dass es zu risikoreich für ihn ist, bei uns zu bleiben. Er musste in beiden Situationen mit starken Schmerzen und gelber Haut zu Fuß zurück ins Pfarrzentrum laufen. Die Entscheidung für seine Versetzung fiel im Juli. Im gleichen Monat kam ein mexikanischer Bruder zurück in den Südsudan. Bruder Jorge hatte schon von 2005-2014 in diesem Land gearbeitet. Weil Pater Alfred und ich nach dem Abschied von Pater Christopher mit nur zwei Mitgliedern die kleinste Hausgemeinschaft gewesen sind, war es naheliegend, dass Bruder Jorge uns in Old Fangak verstärken wird. Er hat 2008 die katholische Universität in Juba gegründet. Mit unserer Grundschule können wir da nicht groß angeben, aber er freut sich sehr, dort Verantwortung zu übernehmen. Im Laufe des nächsten Jahres werde ich die Schularbeit an ihn übergeben, weil unsere Gemeinschaft dauerhaft von drei auf zwei Priester reduziert ist und in der Pastoral viel zu tun ist. Die regelmäßigen Kapellenbesuche müssen ab jetzt zwischen Pater Alfred und mir aufgeteilt werden. Im Gedenken an meinen Ordensgründer, der das Wort „katholisch“ (= allumfassend) nicht nur konfessionell, sondern auch als Gegenbegriff zum europäischen Nationalismus des 19. Jh. verwendet hat, ist es für mich eine Freude, dass wir jetzt drei Missionare aus drei Kontinenten sind.

Die Comboni-Grundschule in Old Fangak wächst beständig. Dieses Jahr gab es 53 Kandidaten im Abschlussexamen der 8. Klasse, nächstes Jahr werden es knapp 100 sein. Der Anteil derer, die in Fangak County einen Grundschulabschluss besitzen, liegt aber immer noch unter 1%. (Zum Hintergrund unserer Schule lesen Sie hier den Artikel „Schulbildung im Südsudan“)

Um die Früchte unserer pastoralen Arbeit zu verdeutlichen, werde ich über unseren Katecheten Michael Lunyjok Bidit vor dem Hintergrund der andauernden Konflikte in der Region erzählen. Seine Geschichte ist exemplarisch für Nuer, die als Erwachsene zum Glauben an Jesus gefunden haben. Michael war viele Jahre Anführer der Jugend in seinem Dorf. Das ist bei den Nuer keine nette Clique, sondern vor allem eine Bürgerwehr, die die Familien vor Rinderraub schützt (Beispiel aus dem Alten Testament: 1 Chronik 7,21). Außerdem werden unangebrachte sexuelle Annäherungen, insbesondere Vergewaltigungen, gerächt (Beispiel aus dem Alten Testament: Genesis 34). Es ist eine patriarchalische Gesellschaft. Jungen werden ab Beginn der Pubertät zu Kämpfern herangezogen. Dazu gehört das Töten von Feinden, entweder von einer anderen Sippe oder einem anderen Stamm. Es gibt traditionell keine Staatsgewalt, die Recht durchsetzt. Das ist faktisch bis heute so. Jede Sippe ist auf sich allein gestellt.

Was diese lokalen Konflikte in unserer Pfarrei an Unruhe verursachen, möchte ich an drei Beispielen verdeutlichen, die alle dieses Jahr 2018 passiert sind. Im April habe ich die Kapelle in Yidiit besucht. Einige Tage zuvor hatte es einen Mord in aller Öffentlichkeit auf dem Markt in Nachbarort gegeben (dessen Vorgeschichte hier zu weit führen würde). Zu der Sippe des Mörders gehört auch der Katechet von Yidiit. Nach der Tradition der Nuer muss ein Mord mit dem Tod eines anderen ausgeglichen werden. Dabei braucht man nicht den Mörder finden; es reicht, irgendeinen männlichen Vertreter der gleichen Sippe zu töten, die sich in so einem Fall entweder aus dem Staub machen oder aufrüsten. Weil der Katechet von Yidiit ein „Mann Gottes“ ist, erlaubte man ihm, auf seinem Grundstück im Hausarrest leben zu dürfen, bis der Konflikt geregelt sei. Das hat aber auch bedeutet, dass er nicht die 300 Meter von seinem Haus zur Kapelle gehen durfte, um an meiner Sonntags-Messe teilzunehmen. Denn auf diesen Metern wäre es legitim gewesen, ihn zu töten.

Im Juni habe ich die Kapelle in Patei besucht. Es wurde ein Dank-Gebet für die Rückkehr eines Verwandten nach vielen Jahren organisiert. Das Nachbardorf Mulkich war eingeladen. Es kam aber niemand, weil sich am selben Tag ein Mord zu getragen hatte. Am nächsten Tag war ich zurück in Old Fangak, als wir plötzlich Schüsse vom Nachbargrundstück hörten. Es war der Revanche-Mord vollzogen worden, aber an einer unbeteiligten Person. Die Rächer hatten als Zielscheibe nach dem Cousin des Mörders Ausschau gehalten. Den kannten sie aber nicht von Angesicht, sondern nur dem Namen nach. In Old Fangak gab es einen Mann von einer anderen Familie mit exakt diesem Namen, was ihm zum Verhängnis geworden ist. Aus einer Fehde zwischen zwei Sippen war ein kompliziertes Dreiecksverhältnis geworden. Als die Revanche-Mörder den Fehler bemerkten, stellten sie sich verdutzt der Polizei. Die löst aber keine Mordfälle, sondern bewahrt die Leute in Untersuchungshaft, bis die streitenden Familien sich untereinander einigen. Nach einer versöhnlichen Einigung (bezahlbar in Rindern) ist der Mörder frei. Im Grunde ist das Gefängnis hier Täterschutz, damit dieser nicht auch noch getötet wird.

Im November hatten wir in Old Fangak unser Treffen der Jugendleiter, zu dem einige nicht kommen konnten, weil die Wege in ihrer Region aufgrund eines Konfliktes zu unsicher waren und zu diesem Zeitpunkt, während ich diesen Brief scheibe, immer noch sind. Wenn zwei hitzköpfige Jugendbanden aneinander geraten, können auch Unbeteiligte ins Kreuzfeuer kommen. Es fing vor zwei Jahren mit einer versuchten Vergewaltigung an. Vor ein paar Wochen waren zwei Männer auf dem Weg zum Markt. Jemand warnte die beiden, dass Männer der anderen Sippe sich dort aufhalten, die den beiden gefährlich werden könnten. Sie kehrten daraufhin um, aber anstatt nach Hause zu gehen, liefen sie zur Klinik und töteten dort einen Krankenpfleger, einen Verwandten der Männergruppe auf dem Markt. Das Mordopfer hatte eine Ausbildung abgeschlossen und war gerade erst einige Wochen zurück im Dorf in der Klinik angestellt, um seiner Heimatregion zu helfen. Ausgebildete Leute sind oft Zielscheibe, um den „Schaden“ besonders schmerzlich zu machen.

Dies sind nur drei Beispiele in diesem Jahr von vielen tödlichen Sippen-Konflikten, die regelmäßig in unserer Region stattfinden und die sich über Monate oder sogar Jahre hinziehen können. Dabei handelt es sich nicht um den Bürgerkrieg auf nationaler Ebene. Wenn der große Krieg irgendwann beigelegt ist, wird es die vielen Kleinkonflikte weiterhin geben, wie die gewöhnlichen Wellen des Meeres im Vergleich zu einem Tsunami. Keine Nachrichtenseite wird davon berichten. (Ich setze den Bürgerkrieg mit einem Tsunami gleich, weil innerhalb von fünf Jahren nach neusten Schätzungen fast 400.000 Menschen getötet und 4 Millionen vertrieben worden sind.)

Vor diesem Hintergrund möchte ich nun von unserem Katecheten Michael Lunyjok erzählen, der in so vielen Konflikten gekämpft hat, dass er sie nicht mehr zählen kann. Er hatte als Kind nicht die Schule besucht und meldete sich daher 2016 zum Nuer-Lesekurs in seiner katholischen Kapelle an. Es kostete ihn einige Überwindung, weil er mit seinen 24 Jahren sich lächerlich machte, wie ein kleines Kind zur Schule zu gehen. Kämpfer wie er gehen gewöhnlicherweise einen anderen Lebensweg, den der Tradition. Der Lesekurs wird von unserem Katecheten Peter Gatluok geleitet, ein weiser und humorvoller alter Mann. Für die Leseübungen benutzt Peter auch kurze Gebete. Michael erfuhr zum ersten Mal im Lesekurs von einem Gott, der barmherzig ist und vergibt, denn in seiner Familie ist niemand Christ. Im gleichen Jahr fand das Comboni-Fest mit unserem Liederkompositionswettbewerb in der Nähe seines Dorfes statt, wo er aus Interesse teilnahm. Die Art und Weise, wie unsere Katholiken miteinander umgehen und sich achten, hat Michael so berührt, dass er Christ werden wollte und sein Leben Jesus anvertraut hat. Peter Gatluok erkannte das Potential von Michael als Leiter und Lehrer und schlug ihm vor, die Katechetenausbildung in unserer Pfarrei zu machen. Zu Beginn der Ausbildung war Michael noch nicht getauft. Dies geschah in der Osternacht 2017. Der Katecheten-Kurs ist seine Taufvorbereitung gewesen.

Weil Michael ein traditioneller Anführer gewesen ist und immer noch Autorität im Dorf besitzt, sind andere junge Männer ihm in die Kirche gefolgt und haben das kriegerische Leben aufgegeben. Michael predigt mit Sanftmut und erklärt den Menschen, warum die Sanftmütigen das Reich Gottes erben (vgl. Matthäus 5:3-10). Das kirchliche Leben ist für Nuer ein Schutzraum, wo ein neuer, friedvoller Umgang gepflegt wird.

Dies ist eine Überleitung zu einem anderen, ernsten Thema: dem (sexuellen) Missbrauch in der katholischen Kirche. Denn in vielen anderen Ländern bestehen wohl Zweifel, ob man seine Kinder der Kirche überhaupt noch anvertrauen kann. Dass die Kirche ein Schutzraum wäre, der in der Gesellschaft nicht zu finden ist, ist heutzutage wohl etwas Seltenes.

Ein Aspekt, der den sich wiederholenden Missbrauch begünstigt hat, ist die traditionelle Rolle des Priesters als heilig lebender Mann, dem man keine Untat zutrauen würde. Daher wurde vielen Opfern nicht geglaubt bzw. viele haben sich gar nicht erst getraut, von ihrem Schicksal zu erzählen. Bei den Nuer wäre so eine Situation undenkbar, weil sie die Rolle einer unantastbaren Person nicht kennen. Jeder wird gnadenlos nach seinem realen Verhalten beurteilt. Wenn ein Erwachsener ein Kind zum Schweigen verpflichten wollte, wäre das wie der Versuch, den Wind aufhalten zu wollen. Es gibt hier keine „schrecklichen“ Geheimnisse, jedenfalls nicht für lange. Nuer lügen auf ihre Weise, aber nicht, wenn ihnen etwas Schlimmes durch jemand anderen widerfahren ist. Das wird öffentlich ausgesprochen, und Täter sind schnell geständig. Das ist ein gesunder Aspekt der Nuer-Kultur.

Was in den USA, Chile und Deutschland dieses Jahr wieder ans Licht gekommen ist, bestürzt mich sehr. Das Anerkennen der Leiden und auch die Heilung der Opfer – so gut das möglich ist – müssen über dem Interesse stehen, den Ruf der Kirche (oder einer anderen Institution) zu bewahren. Ich sehe die Kirchenleitung am Scheideweg und bin mir nicht sicher, ob eine Reform von innen heraus aus eigener Kraft gelingen wird. Aber die Kirche ist Gottes Eigentum. Als die Königsdynastien von Juda und dem Nordreich Israel unreformierbar wurden, heißt es im Alten Testament, dass Gott das Volk für mehrere Jahrzehnte ins Exil geschickt hat, erzwungen durch eine äußere politische Macht. Das war eine traumatische Erfahrung. Es ist durchaus möglich, dass der katholischen Kirche ein Exil auferlegt wird (zumindest in einigen Ländern), wenn es keine echte Umkehr mit konkreten Taten gibt. Alle, leider auch die unbeteiligten Gläubigen, haben daran zu leiden, genauso wie unbeteiligte Israeliten ins Exil verschleppt wurden. Ich schreibe das für katholische Leser, denn eine Freundin schrieb mir vor Kurzem, dass jetzt der Zeitpunkt zum Kirchenaustritt gekommen ist. Unsere Treue zur Kirche gilt aber nicht den Bischöfen, und unsere Mitgliedschaft ist keine Auszeichnung für gute Leiterschaft. Unsere Treue als Kirchenmitglieder gilt dem Herrn. Das Exil war für Israel ein Akt der Sammlung durch die Ermöglichung echter Umkehr und Besinnung. Ein wie auch immer geartetes Exil der katholischen Kirche in unserer Zeit sollte als Gnadenakt verstanden werden mit der Chance, sich wirklich Gott und seinem Evangelium zuzuwenden zum Wohl der Menschen. (Mir ist bewusst, dass dieser Absatz auf Widerspruch stoßen kann und erfahre gerne eure Sicht der Situation.)

Die Adventszeit erinnert nicht nur an das Kommen Jesu als Erlöser vor 2000 Jahren, sondern weist auch auf sein zweites Kommen als Richter hin. Es gibt ein interessantes Bild vom Gericht Gottes im ersten Korintherbrief (Verse 3,11-15): „Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus. Ob aber jemand auf dem Grund mit Gold, Silber, kostbaren Steinen, mit Holz, Heu oder Stroh weiterbaut: das Werk eines jeden wird offenbar werden; jener Tag wird es sichtbar machen, weil es im Feuer offenbart wird. Das Feuer wird prüfen, was das Werk eines jeden taugt. Hält das stand, was er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder, dann muss er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch.“ Wenn wir das auf die Kirche übertragen, gibt es keine andere Hoffnung als Gottes Gericht, das aufdeckt und reinigt. Jesus Christus als festen Grund kann niemand wegnehmen. Lasst uns darauf neu bauen.

Jim Rayburn, Gründer der christlichen Jugendorganisation Young-Life, hatte sich folgendes zu eigen gemacht: Anstatt den Glauben und christliches Verhalten einzufordern, müssen Erwachsene von Jugendlichen zuerst „das Recht erwerben, gehört zu werden.“ So muss auch die katholische Kirche wieder zurück auf das Startfeld und von vorne den Weg beginnen, in dieser Welt mit ihrer befreienden Botschaft gehört werden zu dürfen. Das Evangelium ist wahr, und es ist der Weg der Erlösung. Lassen wir uns in dieser Adventszeit selber davon verändern. Beten wir für notwendige Strukturreformen, die Missbrauch aufdecken und abstellen, und auch für die Integrität der Bischöfe.
Verbunden in Christus,
Euer (Pater) Gregor
[Comboni-Missionare – Deutschsprachigen Provinz]