Sonntag 8. September 2019
P. Gregor Schmidt, Komboni-Missionar, hat seinen Orden in Peru kennengelernt, wo er über die Diözese Rottenburg-Stuttgart seinen Zivildienst geleistet hat. Theologie studierte er in Innsbruck. Seit über 10 Jahren lebt P. Gregor unter den Hirtenvölkern des Südsudan, drei Jahre bei den Mundari und fast acht Jahre bei den Nuer. Er hat alle Phasen der Staatenbildung und des Zerfalls miterlebt: den Friedensvertrag 2005, die ersten freien Wahlen 2010, das Unabhängigkeitsreferendum 2011 und den Beginn des Bürgerkrieges Ende 2013.

Der Südsudan

Der Südsudan ist eine multi-ethnische Gesellschaft mit über 60 Völkern/Sprachen. Etwa drei Viertel der Bevölkerung sind halb-nomadische Hirten. Das Land ist eine der am wenigsten entwickelten und urbanisierten Regionen Afrikas, welches den längsten Krieg Afrikas durchlebt, der seit 1955 mit zwei Pausen vier Generationen Menschen traumatisiert. Der Befreiungskampf im geeinten Sudan gegen die Machthaber in Khartum hat über zwei Millionen Menschen das Leben gekostet, der aktuelle Bürgerkrieg bisher etwa 400.000 Leben. Seit der Unterzeichnung des letzten Friedensabkommens im September 2018 hat sich die Lage etwas stabilisiert. Aber für die meiste Zeit des Bürgerkrieges (knapp sechs Jahre) hat der Fund for Peace (FFP) den Südsudan auf den ersten Platz des Fragile States Index gesetzt.

Einsatz am „Ende der Welt“
P. Gregor Schmidt

P. Gregor Schmidt MCCJ.

Ich bin gebeten worden, über mein gesellschafts-politisches Engagement als Ordensmann im Südsudan zu schreiben. Der erste Teil dieses Aufsatzes gibt einen Einblick, wie sich das Evangelium im Südsudan, speziell bei den Nuer, verbreitet hat. Der zweite Teil beschreibt die gewalttätigen Konflikte des Landes und deren Ursachen. Im dritte Teil in­formiere ich über die Versöhnungsarbeit in unserer Pfarrei, die ein integraler Bestandteil der Mission der Kirche ist.

Die Ankunft des Evangeliums im Sudan und Südsudan

Im Buch Jesaja handelt ein Abschnitt von den Völkern des Sudan: „In jener Zeit werden von dem hochgewachsenen Volk mit der glänzenden Haut dem Herrn der Heere Geschenke gebracht, von dem Volk, das man weit und breit fürchtet, von dem Volk das kraftvoll alles zertritt, dessen Land von Flüssen durchschnitten wird. Man bringt die Geschenke an den Ort, wo der Name des Herrn der Heere gegenwärtig ist: zum Berg Zion.“ (Jes 18,7)

Die „Flüsse“ sind der Nil mit seinen zahlreichen Nebenflüssen, die das Territorium durchschneiden. Jesaja sah die Zeit voraus, zu der diese Völker dem Herrn in Zion Geschenke bringen würden. Es passierte nicht zu seinen Lebzeiten, sondern in neutestamentlicher Zeit. Der Afrikaner in der Apostelgeschichte (Kapitel 8), der von Diakon Philip getauft wurde, ist der erste sudanesische Christ aus dem Reich der Meroe mit der Königin Kandake, noch bevor das Evangelium Europa erreichte. Der Mann selber hat keine his­torischen Spuren hinterlassen. Aber seit dem dritten Jahrhundert sind Kontakte zwischen ägyptischen Mönchen und Christen des Sudan (Nubiern) belegt.

Ab dem sechsten Jahrhundert waren alle Königsdynastien christlich. Es gab eine lange Phase, in der das Christentum im Sudan bis ins 15. Jahrhundert blühte. Jedoch verschwand die Erinnerung an den christlichen Glauben komplett un­ter dem Einfluss des Islam und wurde erst knapp 400 Jahre später zum zwei­ten Mal durch den heiligen Daniel Comboni bekannt gemacht. Es dauerte aber noch bis zum Ende des 20. Jahrhun­derts, bevor die Nuer, das nilotische Volk bei dem ich lebe, in großer Zahl Christen wurden.

Zu Kolonialzeiten gab es nur sporadisch Bekehrungen. Die Nuer wurden während des sudane­sischen Bürgerkriegs in der zweiten Hälfte des 20. Jh. von ihrer Heimat ver­trieben. Einige wurden als Flüchtlinge Christen, als sie mit katholischen und protestantischen Missionaren in Khar­tum und in Äthiopien zusammentrafen. Während des Befreiungskampfes gegen ihre islamische Regierung, die Schwarze als Menschen zweiter Klasse diskrimi­nierte und zahllose Nicht-Muslime ver­sklavte und tötete, entdeckten sie den Gott der Bibel als den Heiligen, der das Weinen seines leidenden Volkes hört, so wie er auch die versklavten Israeliten in Ägypten gehört hat.

Das Evangelium verbreitete sich unter den Nuer wie ein Lauffeuer während der 1980er und 1990er Jahre, als die zurückkehrenden Konvertiten ihren neuen Glauben mit ihren Angehörigen in den Dörfern teil­ten. Die Vision Jesajas, dass das „hoch­gewachsene Volk mit der glänzenden Haut“ vom Nil Gott anbeten würde, ist für sie ebenfalls wahr geworden. Heute gibt es hunderttausende Nuer-Christen: vorrangig Presbyterianer, Katholiken und (Episcopal)-Anglikaner. Ein katho­lischer Katechet berichtete, dass er über 20.000 Konvertiten in den Jahren seiner Dienstzeit getauft habe. Diese Notiz soll verdeutlichen, dass die lokale Kirche in ihren Anfängen im Wesentlichen von Laien getragen ist.

Die Comboni-Missionare wurden 1998 vom Bischof der Diözese Malakal ein­geladen, Katholiken zu begleiten, die in den Dörfern der Fangak Region im Sudd, dem Sumpfgebiet des Nils, ver­streut leben. Unsere junge Gemein­schaft, deren erste Generation von Gläubigen noch am Leben ist, ist äußerst gastfreundlich und großzügig. Um die Pfarrei zusammenzuhalten, besuchen wir Missionare die Menschen regelmäßig in ihren Dörfern. Wir sind zu Fuß unterwegs, da es keine Straßen gibt und entsprechend auch keine Fahrzeu­ge. Die am weitesten entfernten Kapellen sind bis zu vier Tage vom Pfarrzentrum entfernt.

Das Pfarrgebiet ist etwa acht Mal so groß wie Berlin. Pfade, die nicht benutzt werden, verschwinden innerhalb weniger Wochen in der unab­lässig wuchernden Vegetation. Das hal­be Jahr über fluten die Wasser des Nils und die Regenfälle die Region, die so flach wie eine Scheibe ist. Es gibt keine Hügel, außer Termitenhügeln. Auf un­seren Wanderungen durchqueren wir Gewässer, die uns bis zum Hals reichen. Tropische Krankheiten gehören zum Alltag und sicheres Trinkwasser ist selten. Die Grundnahrung der Nuer besteht aus Hirse mit Milch oder mit Fisch. Sie sä­hen und ernten mit Handwerkzeugen, da der Ochsenpflug in dieser Region noch nicht eingeführt wurde. Ferner gibt es kein Telefon/Handy, keine Post, kein Stromnetz – wir sind auf Solarstrom angewiesen –, und keine lokale Radiostation; nur Kurzwelle ist über den Weltempfänger zu hören. Einige humanitäre Organisationen haben in den letzten Jahren Satellitenschüsseln für Internet-Kommunikation aufge­stellt.

Sofern es Sinn macht, vom „Ende der Welt“ auf diesem runden Planeten zu sprechen, behaupte ich, dass die Sumpfgebiete des Nils ein guter Anwärter auf diesen Titel sind. Ich bin dank­bar, bezeugen zu dürfen, dass der Dreifaltige Gott an einem der unwahr­scheinlichsten Orte der Welt angebetet wird. Zu unseren Aufgaben gehört es, Männer, Frauen und Jugendliche auszubil­den, damit sie zu kompetenten Gebetsleitern und Lehrern des Glaubens (Katecheten) in ihren Kapellen werden.

Unsere Gemeindemitglieder haben ei­nen starken, aufrichtigen Glauben an Jesus als ihren Erlöser, aber nur eine geringe christliche Bildung. Ferner bie­ten wir das Katechumenat für Erwach­sene an, die darum bitten, Christen zu werden. Etwa die Hälfte der Bevölke­rung von Fangak County ist mittlerwei­le getauft. Es gibt viele Anhänger der traditionellen Religion der Nuer, die sich zu Jesus Christus hingezogen füh­len. Da über 95% der Bevölkerung in diesem Teil des Südsudans aufgrund ihrer Isolation Analphabeten sind (national liegt die Analphabeten-Rate bei etwa 75%), unterstützen wir Bildungs­programme auf Nuer und auf Englisch. Wir haben seit 2014 eine Schule im Gemeindezentrum, bei der es sich um die einzige Institution in Fangak Coun­ty handelt, in der Schüler ihren Grund­schulabschluss (8. Klasse) absolvieren können. Außerdem ist aufgrund des aktuellen Bürgerkrieges die Aussöh­nung der verschiedenen ethnischen Gruppen eine wichtige Aufgabe für die Kirchen im Südsudan geworden.

Eine gewalttätige Gesellschaft

Der Südsudan ist nur deshalb in den Nachrichten, weil es einen nationalen Bürgerkrieg gibt. Und die stillschwei­gende Annahme ist, dass es Frieden im Land gäbe, wenn dieser Konflikt endet. Wir haben es aber bei ostafrikanischen Hirtenvölkern (nicht nur im Südsudan) mit archaischen Gesellschaften zu tun, deren Kultur inhärent gewalttätig sind. Ein Vergleich mit Mord und Totschlag bei den Israeliten, die ja selber Hirten waren, ist für europäische Leser ein gu­ter Einstieg (z.B. 1 Chr 7,21; Gen 34).

Das polygam-patriarchale Familien­ und Wertesystem ist sehr ähnlich; u.a. der Rachemord, der auf dem von allen anerkannten Ausgleich beruht, dass ein Menschenleben genommen werden muss, um das Opfer zu sühnen. Anders als im Alten Testament (Gen 9,6) ist es jedoch nicht wichtig, den Mörder zu finden. Es reicht einen männlichen nahen Verwandten als „Ausgleich“ zu ermorden, weil der Einzelne stellvertre­tend für die Sippe steht.

Im Südsudan finden auf drei Ebenen zugleich tödliche Konflikte statt: Während Regierung und Opposition sich be­kriegen, gibt es gleichzeitig innerhalb der Ethnien andauernde gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Unter­gruppen („sub-tribes“) und gleichzeitig Rachemorde zwischen Sippen auf lokaler Ebene. Das Rote Kreuz hat neulich im Radio berichtet, dass die Anzahl der Bürgerkriegsverletzten seit der Unter­zeichnung des letzten Friedensabkommens im September 2018 zwar erheblich zurückgegangen ist, aber die Gesamtzahl der Patienten mit Schusswunden nicht wesentlich kleiner geworden ist. Selbst die Nahrungsversorgung durch das Welternährungsprogramm der UNO (WFP) begünstig das Töten, weil Männer mit hungrigem Magen weniger geneigt sind zu kämpfen. Es gibt vor Ort einen direkten Zusammenhang zwischen aus­reichend Nahrung und Sippenkonflikten. (Der nationale Konflikt ist stattdes­sen eher vom Wechsel der Trocken- und Regenzeit bestimmt, weil die Fahrzeuge im Matsch stecken bleiben.)

Während bis ins 19. Jahrhundert mit Speeren getötet wurde, hatten sich die südsudanesischen Hirten seit 1955, dem Beginn ihres Unabhängigkeitskampfes gegen die arabischen Machthaber, zu­nehmend mit Kalaschnikows und anderen Schusswaffen bewaffnet und diese dann auch beim Rinderraub gegen an­dere Ethnien und bei Rachemorden gegen andere Sippen eingesetzt. In den Jahren nach dem Friedensvertrag 2005 vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges 2013 gab es im Südsudan jedes Jahr mehrere Tausend Morde durch interethnische und intra-ethnische Konflikte.

Im Zeitraum von April 2011 bis April 2012 allein zwischen den Nuer und Murle über 5000 Tote in Jonglei State, wo sich meine Pfarrei befindet. Die Murle zeichnet aus, dass sie nicht nur Rinder sondern auch Kleinkinder rau­ben, um die Zahl der Stammesmitglieder zu erhöhen. Das bewirkt einen enormen Hass bei den Nachbarvölkern. Der Konflikt wurde zwar von UNO-Be­obachtern in die Statistik aufgenom­men, war in der internationalen Presse aber nur eine Fußnote wert und wurde auch nicht als „Krieg“ interpretiert. Zu­gegeben, der aktuelle Bürgerkrieg hat das Morden um ein vielfaches erhöht, aber es ist aus meiner Erfahrung ehrli­cher zu sagen, dass es im Südsudan zwischen den Ethnien noch nie Frieden gegeben hat und das die Gewaltrate wie eine Fieberkurve hoch und runter geht. Der Patient hat stetig Fieber, manchmal mehr und manchmal weniger. Eine Waffenruhe von Zeit zu Zeit darf daher im Südsudan nicht als Versöhnung interpretiert werden.

Die kulturellen Ursachen der Konflikte

Ich beschreibe in aller Kürze drei The­menkreise, um das Verhalten der Sippen und Ethnien zu verstehen. Diese Men­schen überleben seit Jahrhunderten in einer feindlichen Umgebung, wo sie von anderen Gruppen, der Natur (Dürre, Hochwasser, Krankheiten usw.) und der Tierwelt (Schlagen, Krokodile, Skorpio­ne usw.) ständig bedroht sind.

Der Einzelne kann nur im Kollektiv überleben, welches für Sicherheit und Verteilungsgerechtigkeit sorgt. Es gibt ein afrikani­sches Sprichwort: Ich bin, weil wir sind. Das sind die unmittelbaren Beziehungen, die einen tragen. In Europa sind Beziehungen/Freundschaften optional. Selbst mit den Eltern und Geschwistern kann der Kontakt abgebrochen werden, weil es möglich ist, sich im modernen Staat selber zu versorgen.

Ein Nuer hingegen kann sich auf nichts verlassen, außer dass die Brüder oder die ausgewachsenen Söhne zur Verteidigung ihr Leben aufs Spiel setzten. Und nur die Großfamilie wird einen im Alter versor­gen. Daher gibt es eine 100%-ige Loya­lität mit einem engen Verwandten, ganz egal ob er im Recht oder Unrecht ist. Auch wird die eigene Sippe gegen an­dere kompromisslos verteidigt, und aus dem gleichen Grund ist der Bürgerkrieg ethnisch. Das Sippen- und Stammeskollektiv überschattet die Identität des Individuums fast vollständig. Weil man sich selber als Teil eines Kollektivs ver­steht, wird daher auch der „Andere“ fast immer nur als Repräsentant seines Kollektivs wahrgenommen.

Der zweite Themenkreis betrifft das Heiratssystem mit dem Brautpreis. Während in Europa einige Menschen darüber de­battieren, wegen des Klimawandels kei­ne Kinder mehr in die Welt zu setzen, gehört es in Afrika zur Grundbestimmung des Menschen, die Lebenslinie seiner Sippe durch eigene Nachkommen fortzusetzen. Der legitime Ort, Kinder zu zeugen und aufzuziehen, ist die Ehe.

In einer patriarchalen Gesellschaft wie im Südsudan ist es für den Vater der Kinder notwendig, den Brautpreis voll zu bezahlen, sonst gehören die Kinder nicht ihm, sondern den Brüdern seiner Ehe­frau. Die biologische Vaterschaft hat keine Relevanz. Es gilt nur die legale Vaterschaft, legitimiert durch den Braut­preis. Bei den Nuer liegt der Brautpreis bei etwa 50 gesunden Rindern, bei den Dinka bei über 200. Das schafft enormen Druck und auch Begehren. Weil man mit seinen Nachbarn keine Konflikte wünscht, werden Rinder üblicherweise bei Nachbarvölkern seit Menschengedenken geraubt. Die Hirten werden bei einem Angriff getötet, damit sie nicht Alarm schlagen können und die Herde in Ruhe weggeführt werden kann. Die Gewalt unter Männern verursacht einen Frauenüberschuss, der die Polygamie (genauer gesagt: Polygynie) notwendig macht und stabilisiert, denn eine Frau wird nur dann „erwachsen“ und in der Gemeinschaft anerkannt, wenn sie ver­heiratet und (mehrfach) Mutter gewor­den ist.

Während wir im Westen unter Frauenrechten die Gleichstellung mit Männern verstehen, einschließlich dem Recht, keine Kinder zu wollen, kennen Hirtenvölker im Südsudan nur dieses eine Frauenrecht: Ehefrau und Mutter zu werden. Weil es nicht genug Männer gibt, ist für alle Frauen offensichtlich, sich einen Mann zu teilen. Es reduziert auch die Last der Hausarbeit für die ein­zelne Frau, wenn sie zu mehreren sind. Die Polygynie wiederum ist für Männer der Grund, mehr Rinder zu begehren, um weitere Frauen zu heiraten, was zu wei­terem Rinderraub verleitet. Die Gewaltkultur der Männer und die Polygynie stützen und bedingen sich also gegensei­tig und verursachen einen Teufelskreis, der den Beteiligten nicht bewusst ist.

Der dritte Themenkreis betrifft das Verständnis von Gesetzen und in Konflikten, zwischen Zivilisten und bewaffneten Parteien zu unterscheiden. Wir haben uns im Westen in immer mehr Berufsgruppen spezialisiert. Selbst das Töten wurde gewissermaßen professionalisiert. Ausschließlich Soldaten und anderen autorisierten Personen ist es nach be­stimmten gesetzlichen Regeln und unter festgelegten Umständen gestattet zu töten. Das Gewaltmonopol des Staates ist – zumindest in Deutschland – bis auf wenige Gruppen wie die Reichsbürger anerkannt und erwünscht, weil der Staat sich in der Regel als verlässlich erweist.

Im Südsudan hat der Staat noch nie funktioniert oder sichtbare Vorteile gebracht, weder unter der Kolonialherrschaft der Briten, noch der Araber noch der aktuellen Dinka-Regierung. Der Staat war immer ein Eindringling und nie ein Dienstleister. Sippen regeln daher ihre Belange in den meisten Fällen auf lokaler Ebene nach der Tradition (unabhängig davon, was das geschriebene Gesetz des modernen Südsudan festgelegt hat).

Die Gesellschaft in der Region unserer Pfarrei hat auch kaum Differenzierungen von Tätigkeiten, abgesehen von der scharfen Trennung der Geschlechter. Ein Nuer (und Dinka) Mann ist daher zugleich ein Hirte, Fischer, Bauer, Architekt, Händler, Soldat und Bluträcher. Jeder Hirte im Südsudan besitzt ein oder zwei halb-au­tomatische Gewehre. Die lokale Kultur kann daher, zumindest bei Männern, nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterscheiden. Sie kennt auch Kindheit nur bis zum Beginn der Pubertät. Von da an lernt ein Junge zu jagen, zu schießen und zu töten. Die moderne politische Festlegung von Volljährigkeit ab 18 Jah­ren ist in der traditionellen Kultur nicht verständlich – ganz abgesehen davon, dass viele nicht einmal ihr Geburtsjahr wissen – und daher ist das Problem von Kindersoldaten, welches im Westen so viel Aufsehen erregt, auch nur schwer zu vermitteln.

Wir Comboni-Missionare haben in Unity State eine Pfarrei, deren Zentrum sich in Leer, dem Geburtsort des Nuer-Oppositi­onsführers Riek Macher befindet. Gleich zu Beginn des Bürgerkrieges wurde die Stadt von Milizen, die für die Dinka-Regierung kämpfen, eingenommen. Auf dem Kirchengelände befindet sich ein Schiffscontainer, in dem 2015 über 60 Jungen und Männer eingeschlossen wurden, die dort elendig erstickten. Aus Sicht von Außenstehenden handelt es sich um ein Kriegsverbrechen von Milizen an Zivilisten mit Kindern. Aus Sicht der Mörder handelt es sich um eine vorbeugende Maßnahme, denn die Opfer waren potentielle Kämpfer und Rächer, die zum damaligen Zeitpunkt nur keine Waffe zur Hand hatten.

Es gibt viele Exil-Südsudanesen, die in englisch-sprachigen westlichen Ländern eine gute Ausbildung genossen haben und auch ein funktionierendes Staatswesen kennen gelernt haben. Nach der Un­abhängigkeit wurde den zurückkehrenden Exilanten aber vorgeworfen, feige weggelaufen zu sein. Die Macht im neu­en Staat wurde daher unter – oft ungebildeten – Guerilla-Kämpfern verteilt, die nichts anderes als Krieg kennen und tief in der traditionellen Hirtenkultur wie oben beschrieben verwurzelt sind. Da es abgesehen vom Hass auf die arabische Regierung in Khartum und dem Stolz, den Befreiungskampf für sich entschie­den zu haben, keine südsudanesische nationale Identität gibt, handelt jeder Politiker und Staatsbedienstete im Inter­esse seiner Sippe und Ethnie.

Das bedeutet konkret, dass Staatseinnahmen auf allen Ebenen in private Taschen gehen, wenn sie nicht für den Krieg gegen die Opposition verwendet werden. Was gemeinhin als Korruption und Vetternwirtschaft bezeichnet wird, ist das Grundmuster, wie Ethnien dafür sorgen, dass es ihren Mitgliedern gut geht. Das machte früher Sinn, um das Überleben der Sippe in einem feindlichen Umfeld zu sichern. Für ein modernes Staatswesen ist das der Tod, weil jede Gruppe, die an der Macht ist, versucht, andere auszuschließen. Die „kulturelle DNA“ macht den Mechanis­mus des Konflikts auf tragische Weise vorhersehbar.

Die Versöhnungsarbeit der Kirche

Die südsudanesische katholische Bischofs­konferenz ist in den knapp sechs Jahren des Bürgerkrieges leider keine Stimme mit Einfluss gewesen, weil viele Bischofssitze nicht besetzt waren und es unter den ver­bleibenden Amtsträgern selber ethnische Spaltungen gibt. Eher hat der ökumeni­sche Rat, der South Sudan Council of Churches, Einfluss. Die katholische Kirche ist Gründungsmitglied des Rates. Auf lokaler Ebene der Pfarrei befinden wir uns in der unwahrscheinlichen Situation – aufgrund der Isolation der Nilsümpfe ohne Straßenanbindung – kaum etwas vom nationalen Bürgerkrieg direkt mitzubekommen.

In unserer Diözese, auf deren Gebiet ein großer Teil der Kämpfe und Zerstörung stattgefunden hat, ist unsere Pfarrei die einzige, die in all den Jahren nicht geschlossen werden musste. In allen anderen Pfarreien wurde die Arbeit für mehrere Jahre eingestellt. Jede Nuer-Familie bei uns hat aber Verwandte im Krieg verloren. Weil der „Feind“ (die Regierung) uns zwar im Nacken sitzt, aber doch beru­higend weit weg ist, sieht unsere Versöhnungsarbeit anders aus als dort, wo ver­feindete Gruppen in einer Pfarrei siedeln. Zunächst möchte ich feststellen, dass ich auf Seiten der Verlierer arbeite.

Die Nuer wünschen sich zwar den Sturz der Dinka-Regierung, aber aus Sicht des Evangeli­ums ist es ein Segen, zu den Marginalisierten und Unterdrückten zu gehören (Lk 1,51-53). Die Dinka sind dabei nicht die schlechteren Menschen, sondern haben einfach mehr Möglichkeiten durch bessere Waffen und die militärische Hilfe Ugandas. Abgesehen vom ersten Jahr des Krieges, wo auch die Opposition einige Siege verbuchen konnte und dabei schreckliche Verbrechen begangen hat, findet der Kampf seit vier Jahren hauptsächlich auf dem Territorium der Völker der Oppositionsparteien statt, und erreicht die Dinka-Bevölkerung nur peripher.

Neben Genozid an Minderheiten findet auch Vertreibung und das Konfiszieren von Land durch die Regierung statt, die ihre eigenen loyalen Leute dort ansiedelt. Selbst wenn das (noch) nicht auf unserem Pfarrgebiet stattgefunden hat, ist es eine enorme Herausforderung, Feindesliebe zu predigen. Die meisten Menschen in Euro­pa haben vielleicht jemanden, der ihnen negativ gegenüber eingestellt ist. Sie haben aber in der Regel keinen echten Feind, der ihnen nach dem Leben trachtet oder ihre Lebensgrundlage zerstört.

Um nicht oberflächlich etwas einzufordern, dass ich selber nicht umsetzten muss, weil ich Ausländer bin, habe ich das Leiden der Nuer zu meinem eigenen Leiden gemacht und stelle keine Forderungen. Wir beten für die Toten und segnen die Verlet­zen, die in unsere Krankenstation gebracht werden. Zu gewissen Anlässen in der Messe beten unsere Nuer Fürbitten in der Sprache der Dinka, um ein Zeichen für die nationale Versöhnung zu setzen.

Auf lokaler Ebene der Sippenkonflikte gehen traditionelle Versöhnungsgespräche ein Hand mit christlichem Gebet (in­sofern es sich bei den Sippen um Christen handelt). Unsere aktiven Katholiken der Pfarrei sind merklich weniger gewaltaffin als der Durchschnitt der Nuer. Das kirch­liche Leben ist für sie ein Schutzraum, wo ein neuer, friedvoller Umgang gepflegt wird. Die katholische Kirche ist dafür be­kannt und geliebt, dass Meinungsver­schiedenheiten ohne Gewalt ausgetragen werden.

Im Unterschied zu traditionellen Festen und Zusammenkünften, sind Waffen und Alkohol bei Kirchenfesten und auf dem Kirchengelände nicht erlaubt. Alle, die sich für diesen „alternativen Lebensstil“ interessieren, können bei uns mitmachen. Des Weiteren prägen wir in unserer Predigt und Gesprächen den Gedanken der unantastbaren Würde, die sich für den Glaubenden aus der Tatsache ergibt, das jeder Mensch Abbild Gottes ist. Der Begriff lässt sich auf Nuer gar nicht adäquat übersetzen. Als Behelf wird erklärt, dass jedem Menschen Respekt erwiesen werden muss, auch gegenüber Frauen und Fremden eines anderen Stammes.

Sozialpolitisches Engagement wird oft als Wirken der Kirche in der säkularen Gesellschaft verstanden, wo es nur indi­rekt um Verkündigung des Glaubens geht. Es gibt aber im Südsudan keine säkulare Gesellschaft wie in Deutschland. Daher haben die internationalen Friedensprogramme, die an die Vernunft appellieren oder die Menschenrechte betonen, vor Ort kaum Wirkung, weil sie oft die ethnische Identität nicht verstehen oder negieren und die religiöse Identität der Menschen nicht ernst nehmen.

Als Missionar mache ich den Menschen das Evangelium bekannt, welches uns Gott als barmherzigen Vater vorstellt und die Jünger Jesu auffordert, genauso mit dem Nächsten, ja sogar mit dem Feind, umzugehen (Lk 6,27-36). Es geht um einen Mentalitätswandel, dass nicht mehr die Ethnie oder die Sippe definiert, wem man Vertrauen schenkt und wem man nicht vertrauen kann. Das Evangelium und die Bibel zeigen klar, was einen gerechten, ehrlichen Menschen ausmacht. Dies sollte der Maßstab sein, um eine gerechte Gesellschaft aufzubauen.

Eine friedvolle und versöhnliche Lebenshaltung muss im Alltag vorgelebt werden. Das ist die Stärke der Kirche und der Missionare. Wir leben mit den Menschen und leiden mit ihnen. Jesus Christus hat Menschen verändert und bekehrt, indem er konkret geliebt hat und sich zum Diener aller gemacht hat.

Wir Missionare bemühen uns, Sprache und Kultur zu lernen, und wandeln im wörtlichen wie im übertragenen Sinn auf ihren Pfaden. Das wird von den Menschen honoriert, und sie werden bereit, sich der Perspektive des Evange­liums zu öffnen, weil wir uns ihrer Per­spektive geöffnet haben. Es braucht aber Geduld. Jesus erklärt, dass das Reich Gottes wie ein Baum wächst, langsam aber stetig.
Gregor Schmidt MCCJ